Es ist Sonntag früh. Ich sitze mit meinen Eltern zusammen und es sprudelt nur so aus mir heraus. An den Gesichtern der beiden kann ich erkennen, dass es ihnen schwerfällt, mir zu folgen. Ich rede mal wieder viel zu schnell und wild durcheinander – ich bin aufgeregt – im positiven Sinne! “Schuld” daran ist der gestrige Besuch beim “Dinner im Dunkeln” im Universum® Bremen, von dem ich jetzt berichten möchte. Ich versuche, etwas strukturierter dabei vorzugehen als beim Gespräch mit meinen Eltern. 😉

Für diejenigen, die “Dinner im Dunkeln” nicht kennen: Hierbei handelt es sich um eine Veranstaltungsreihe, die einem einen Einblick in “eine Welt ohne Licht” verschaffen soll. Man diniert in einem komplett lichtlosen Raum und erfährt (neben seinen eigenen körperlichen Reaktionen in einer solchen Situation) Vieles über den Alltag sehbehinderter oder blinder Menschen.

WIE WIRD ES SEIN, EINEN ABEND LANG NICHTS SEHEN ZU KÖNNEN?

Was erwartet uns wohl beim Dinner im Dunkeln?

Samstag, 18:15 Uhr. Sanne und ich treffen uns vorm Universum®. Wir sind beide mächtig aufgeregt. Was wird uns erwarten? Wie wird es sein, einen Abend lang nichts sehen zu können? Und dabei auch noch etwas essen… Etwas, von dem wir vorher nicht wissen, was es ist… Sanne erzählt mir, dass sie unbedingt Bescheid geben muss, dass sie gegen Steinfrüchte allergisch ist. “Hoppla”, gestehe ich ihr, “ich habe Bescheid gegeben, dass ich Vegetarierin bin und Du keinen Fisch isst, das mit den Steinfrüchten habe ich verplant”. Das geht ja gut los… Gott sei Dank haben wir vor Beginn des Dinners noch die Möglichkeit, den Fauxpas zu gestehen und es wird uns versichert, dass vom heutigen Menü keine Gefahr für Sanne ausgeht. 😉 Aber der Reihe nach: Vor dem Universum® versuchen wir noch, ein schönes Foto für diesen Bericht zu schießen, aber so richtig erfolgreich sind wir irgendwie nicht. Wir geben der Nervosität die Schuld und beschließen, das mit dem Foto aufzugeben und stattdessen lieber rein zu gehen.

Direkt am Eingang werden wir herzlich empfangen und darum gebeten, Jacken und Taschen abzugeben, um Stolperfallen zu vermeiden. Außerdem sollen wir alle Lichtquellen, wie zum Beispiel Uhren mit digitalem Display, von uns “entfernen”. Dass ich meinen Gedanken “dann kann ich wohl mein Handy nicht mit reinnehmen und Fotos machen ist vermutlich auch Quatsch” laut ausspreche, führt zu einem Schmunzeln beim “Empfangs-Mann” sowie zu albernem Gekicher bei Sanne und mir. Also manchmal fragt man sich auch echt, was da so bei einem im Kopf vorgeht! 😀

IM FOYER GIBT ES VIELES AUS DEM ALLTAG EINES SEHBEHINDERTEN MENSCHEN ZU ENTDECKEN

Heute ist ein besonderer Dinner-Abend. Die Union Brauerei ist mit dabei und wird uns über den Abend mit verschiedenen Biersorten vertraut machen. Wir bekommen direkt eins zur Begrüßung und schauen uns ein wenig um. Zunächst sind wir noch im Hellen und haben die Möglichkeit, uns verschiedene Alltagsgegenstände von Sehbehinderten anzuschauen. Wir kommen direkt mit einem Pärchen ins Gespräch und inspizieren das Spielzeug, welches auf einem Tisch aufgebaut ist: Spielkarten, Mensch ärgere Dich nicht, ein Farbwürfel. Schnell kommt die Frage auf: Wie erkennt man denn die Farben, wenn man nicht sehen kann? Die Antwort: indem man mit Formen und Strukturen arbeitet. Jede der Karten zum Beispiel hat eine bestimmte Anordnung von Punkten, die man fühlen kann (wie bei der Blindenschrift). Beim Mensch ärgere Dich nicht Spiel haben die Spielsteine entsprechend der Farben verschiedene Formen und auch bei dem Farbwürfel (ähnlich wie ein Zauberwürfel), unterscheiden sich die Farben durch unterschiedliche Strukturen der Oberflächen. Uns kommt der Gedanke: Sehbehinderte Menschen müssen ein unglaublich gutes Gedächtnis haben!

Dann geht es los. Wir werden in Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe wird durch eine Person mit Sehbehinderung “betreut”. An unserer Seite ist Werner. Werner erklärt uns, dass wir gemeinsam in den Speisesaal gehen würden. Alle hintereinander in Form einer Polonaise. Er geht vor, Sanne und ich bilden das Schlusslicht. Dann laufen wir los. Durch den ersten Vorhang. Es wird dunkler. Dann durch den zweiten Vorhang und in den Dinner-Raum.

UND PLÖTZLICH IST ES STOCKDUSTER…

Meine erste Reaktion ist es, meine Augen weit aufzureißen. Aber ich kann sie aufreißen, so viel ich will – ich sehe ABSOLUT NICHTS! Sanne erzählt mir später, dass ihr im ersten Moment ganz komisch wurde. Ein wenig übel, irgendwie schwindelig. Es ist eigenartig, nichts zu sehen. Der Gedanke, dass dies noch zwei Stunden anhalten wird ein wenig befremdlich. Aber ich vertraue Werner, der uns sicher zu unserem Tisch führt. Dieses Vertrauen sorgt dafür, dass das mulmige Gefühl schnell verschwindet und nur noch Neugier bleibt. Bei Sanne legt sich ebenfalls die erste Unruhe. “Ich rieche Dein Parfum, ein sehr vertrauter Geruch”, sagt sie mir und ich bin erstaunt, was man plötzlich wahrnimmt, wenn einer seiner Sinne ausfällt. Bei mir ist es das Gehör. Normalerweise bin ich nicht unbedingt geräuschempfindlich, aber heute kommt es mir zwischendurch sehr laut vor.

Nachdem Sanne und ich uns loslassen (wir bemerken, dass wir unbewusst noch immer unsere Hände halten), ertasten wir unsere Umgebung. Ich fühle Besteck. Eine Serviette. Ein Glas. Sanne entdeckt eine Flasche Wasser. Super, das kommt gerade recht. Aber wie einschenken, ohne alles daneben zu kippen? Wir müssen uns vortasten, halten den Finger ins Glas, um zu fühlen, wann dieses voll ist. Zugegeben nicht die hygienischste Variante, aber so funktioniert es wenigstens. Dann wird uns von Werner der erste Gang gebracht. Er verrät nicht, um was es sich handelt, das sollen wir selbst “erschmecken”. Es gibt das passende Bier mit einer kleinen Erklärung dazu. Nach einer ersten “Geruchsprobe” stochere ich planlos mit der Gabel auf dem Teller herum (glaube ich zumindest) und hoffe, dass ich etwas vom Essen erwische. Da! Ich hab was! Vor dem ersten Bissen habe ich ein wenig Angst: werde ich mögen, was ich da esse? Schließlich gibt es so einiges, das mir nicht schmeckt… (Ich werde an dieser Stelle nicht verraten, woraus unser Menü bestand, aber es sei so viel gesagt: Es war sehr lecker und auch in Kombination mit dem jeweiligen Bier eine echte Geschmacks-Freude! :))

WIE BEKOMMT MAN DAS ESSEN IN DEN MUND, WENN MAN ES GAR NICHT SIEHT?

Zum Essenvorgang an sich: Während Sanne sich tatsächlich ganz gut mit Messer und Gabel zu schlagen scheint, gebe ich irgendwann auf und benutze zusätzlich meine Hände. Ich habe absolut keine Ahnung, wie man es schaffen kann, etwas aufzuspießen, das man nicht sieht. Mir graut zwar ein wenig davor, wie ich wohl am Ende des Dinners aussehen werde, aber ich muss es fühlen, wenn ich es nicht sehen kann, sonst wird vermutlich mindestens die Hälfte des köstlichen Essens meinen Mund niemals erreichen…

Während des Dinners haben wir Zeit, uns ein wenig zu unterhalten. Ich frage Werner, ob er von Geburt an blind ist und bereue die Frage ein wenig als ich spüre, dass es ihm schwerfällt, darüber zu sprechen. Aber er erzählt viel aus seinem Leben und wir stellen fest, dass wir gleiche Bekannte haben. Verrückt. Noch nie sind wir uns über den Weg gelaufen und entdecken hier durch Zufall einige gemeinsame Schnittpunkte. Er lädt mich ein, ihn und seine Frau bei sich Zuhause besuchen zu kommen, um noch ein wenig zu schnacken. Ich werde dieser Einladung gerne folgen und bin schon gespannt darauf, mehr von seinem Alltag zu erfahren. Außerdem ist er auch Masseur und, wie ich nun im Nachhinein von meinen Eltern erfahren habe, sehr geschätzt als dieser.

NACH ETWA ZWEI STUNDEN IN DUNKELHEIT IST DAS DINNER VORBEI

Nach etwa zwei Stunden in Dunkelheit werden wir Tisch für Tisch rausgebracht. Sanne und ich bemerken zunächst gar nicht, dass die ersten schon weg sind und bekommen einen Lachanfall, als Sanne panisch fragt “Claudi, bist Du noch da?” – nur, weil ich mal kurz still bin… In Polonaise-Form werden wir wieder nach draußen geführt und vom grellen Licht der Empfangshalle geblendet. Das Licht schmerzt fast ein wenig in den Augen, aber es tut auch gut, wieder sehen zu können.

Wir dürfen uns nun das Menü sowie das “Esszimmer” bei Licht anschauen. Das Essen haben wir alles richtig “erschmeckt”. Den Saal habe ich mir allerdings komplett anders vorgestellt. Offensichtlich funktioniert mein Orientierungssinn ohne Licht noch schlechter als sowieso schon… Melike (die bei uns mit in der Gruppe war) findet auf Ihrem Platz das Schokoladen-Plättchen, welches sie angeblich nie hatte (so berichtete sie es uns). Sie muss es wohl mit dem Löffel beim ersten Versuch weggeschleudert haben. 😀 Mein Platz sieht erstaunlich sauber aus. Um ehrlich zu sein sauberer, als wenn ich sonst esse… ^^ Vermutlich liegt es daran, dass ich mich im Dunkeln viel vorsichtiger und aufmerksamer bewegt habe als sonst… Wir tauschen uns noch ein wenig aus und treten dann den Heimweg an. Satt, glücklich und voller neuer Eindrücke.

DINNER IM DUNKELN: EIN ABEND, DEN ICH SO SCHNELL NICHT VERGESSEN WERDE!

Abschließend kann ich nur sagen, dass es ein Erlebnis war, das mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Mir ist bewusst geworden, dass ich mir bisher irgendwie kaum Gedanken darüber gemacht habe, wie der Alltag von blinden Menschen wohl im Detail aussieht. Ich muss sagen, dass ich nach einer Weile meine Unsicherheit im Dunklen etwas ablegen konnte. Dies lag aber vor allem daran, dass ich wusste, dass NIEMAND in diesem Raum etwas sehen kann. Wie ist es aber, wenn es um Dich herum hell ist und Du als einzige Person nicht sehen kannst? Ist Aussehen egal? Wie findet man sich draußen zurecht? Was gibt es an Technik speziell für Sehbehinderte?

Ich habe mir vorgenommen, mich mehr in dieses Thema einzulesen und der Einladung von Werner zu folgen. Außerdem werde ich ab jetzt öfter an Veranstaltungen teilnehmen, die meinen Horizont erweitern.

Vielen Dank an das Universum® Bremen für diese einzigartige Erfahrung!
Ich kann jedem nur empfehlen, auch einmal teilzunehmen! 🙂

Herzliche Grüße
Claudia

 

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